Die Verfahrensampel im Kinderschutz

Erstellt

Thema Kinderschutztandem intern

von Barbara Brecht-Hadraschek

Claudia Spieckermann, Abteilungsleitung Schulsozialarbeit und Kinderschutzbeauftragte der tandem BTL

Claudia Spieckermann ist Abteilungsleiterin in der Schulbezogenen Sozialarbeit bei der tandem BTL und für unsere Kooperationen und Projekte im Bezirk Marzahn-Hellersdorf verantwortlich. Außerdem ist sie die Koordinatorin Kinder- und Jugendschutz für unser Unternehmen. In unserem Gespräch beschreibt sie, wie das Ampelsystem bei Verdacht auf eine das Kindeswohl gefährdende Situation nach § 8a SGB VIII bei uns den pädagogischen Mitarbeiter*innen vor Ort hilft, eine Situation angemessen einzuschätzen.

tandem-Redaktion: Wie sehen die Prozessregelungen bei der tandem BTL bei einem Kinderschutzfall aus? Können Sie das kurz erklären?

Claudia Spieckermann: Unsere Prozessregelung orientiert sich insbesondere an den Vorgaben des § 8a SGB VIII und des Bundeskinderschutzgesetzes. Wir haben in der Form und Darstellung aber eine eigene Variante entwickelt. So haben wir den gesamten Ablauf in einem Ampelsystem dargestellt. Grün heißt „Alles in Ordnung“; Gelb/Orange „Wir müssen genau hinschauen, aber noch nicht melden“ – und bei Rot ist es klar, da haben wir keinen Spielraum mehr, da müssen wir melden. Mit dieser Darstellung und der konkreten Beschreibung der einzelnen Verfahrensschritte – also der Übersicht, was das einzelne Ergebnis der Gefährdungseinschätzung bedeutet, welche Handlungsschritte mit welchen Verfahrensbeteiligten hier zu gehen sind und wie die Dokumentation und Ablage dieser erfolgt – geben wir unseren Mitarbeiter*innen einen klaren Ablauf zu den Fragen wann, was, wer und mit wem.

Geld/Orange oder Rot?

tandem-Redaktion: Können Sie da einige Beispiele nennen? Was wäre gelb/orange, was wäre rot?

Claudia Spieckermann: Gelb/Orange können beispielsweise Anzeichen von Vernachlässigung sein. Wenn Kinder lange Zeit nicht genug oder gar kein Essen dabei haben, die Eltern nicht dafür sorgen, dass die Schulsachen vernünftig gepackt oder die Kinder vernünftig angezogen sind. Vielleicht sind die Eltern auch mit der Zahlung des Mittagessens im Verzug. Und es verdichtet sich dann, weil es dem Kind zunehmend schlechter geht. Es wird vielleicht aufgrund dieser Tatsachen gemobbt, wird zum Außenseiter im schulischen Bereich. Die Eltern tun dem Kind zwar nicht weh, kümmern sich anscheinend aber nicht gut genug um die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse. Hier muss dann von uns abgeschätzt werden, ob da noch mehr dahinter steckt. Wenn das in diesem Rahmen bleibt, können unsere Kolleg*innen vor Ort natürlich mit den Eltern Verabredungen treffen. In der Phase, in der wir mit den Eltern Verabredungen treffen und im Gespräch sind und die Eltern auch eine gewisse Problemeinsicht zeigen und bereit sind, diese Missstände abzustellen, sind wir zwar in einem Beobachtungsmodus, müssen aber nicht sofort zum Jugendamt gehen. Wir unterstützen dann eher erziehungsberaterisch und beobachten, ob die Vereinbarungen eingehalten werden, das Kind Frühstück dabei hat und so weiter.

Die Situation wird Rot, wenn das einfach nicht aufhört – oder wenn die Eltern sich verweigern, das Problem gar nicht sehen oder gar nicht erst zum Gespräch kommen. Dann spitzt sich die Situation zu und eine Meldung beim Jugendamt kann nötig sein. Vielleicht ist die Familie bisher noch gar nicht auffällig gewesen und auch beim Jugendamt noch gar nicht bekannt, so dass erstmal eine Familienhilfe oder anderweitige Unterstützung funktionieren könnte. Wenn die Eltern das annehmen, ist es gut. Ziel ist es immer, auf die Eltern einzuwirken, Hilfe anzunehmen. Diese kann entweder durch uns oder in der Kooperation Schule/Kita gestaltet sein, oder eben auch durchs Jugendamt oder andere Hilfe-Einrichtungen.

Eine Situation ist natürlich Rot, wenn es klare Anzeichen von Gewalt gibt. Wir müssen dann genau hinschauen und das richtig einschätzen und uns gut abstimmen. Denn wenn man die Eltern einfach direkt darauf ansprechen würde, könnte sich die Situation für das Kind auch drastisch verschlimmern, weil es ja bei anderen geredet hat. Hier ist es wichtig, sich bei der Fachberatung einen Fahrplan zu holen und gleichzeitig eine Meldung zu machen.

Prozessregelungen im Kinderschutz

tandem-Redaktion: Sagen wir, eine Erzieher*in oder ein Schulsozialarbeiter* bemerkt etwas, was ihr auffällt. Wie ist da das Prozedere bei tandem?

Claudia Spieckermann: Die Kolleg*innen gehen zunächst in die Eigenreflexion und/oder besprechen sich erst einmal mit ihren Kolleg*innen vor Ort. Wenn sie sich unsicher in ihrer Einschätzung sind, vielleicht sich mit dem Thema beispielsweise Sucht nicht so auskennen, die Wahrnehmungen, Informationen und Erkenntnisse für sich nicht gut einordnen können, spätestens aber wenn sie gewichtige Anhaltspunkte für ihren Verdacht auf eine das Kindeswohl gefährdende Situation haben, holen sie sich eine Fachberatung, eine insofern erfahrene Fachkraft (iseF). Intern ist das derzeit meine Person – bald auch die Mitarbeiter*innen unseres Kinderschutz-Teams. Oder sie nutzen externe Fachberatungsstellen z. B. das Kinderschutzzentrum. Ob mit mir oder den externen iseFs – die insoweit erfahrene Fachkraft berät quasi unabhängig und der Fall wird anonymisiert besprochen. Hier können sich die Kolleg*innen vergewissern, wo sie stehen – ob sie im gelb/orangenen oder roten Bereich (oder vielleicht sogar doch im grünen) sind. Das heißt: Die Fachberatung sagt nicht, was zu tun ist, sondern unterstützt, den Weg zu finden, bietet eine strukturierte Draufsicht auf die Situation mit dem klaren Fokus Kinderschutz.

Eine Entscheidung muss dann die fallverantwortliche Mitarbeiter*in treffen, gegebenenfalls mit Unterstützung der Leitung. Die Leitung ist bei Kinderschutzfällen informell immer dabei und bekommt die entsprechenden Informationen, selbst wenn sich der Fall als „im grünen Bereich“ entpuppt. Dann gibt es lediglich eine Information im Rahmen von Dienstberatungen und Gesprächen. Ist man im gelb/orangenen oder roten Bereich, muss die Leitung immer informiert werden und die Dokumentation des Falles erhalten. Im roten Bereich sowieso, weil da ja möglicherweise noch weiterführend einiges angestoßen werden muss, eventuell muss die Polizei eingeschaltet werden, und der Träger muss informiert sein über die Meldung, die ans Jugendamt geht.

tandem-Redaktion: Ich glaube, das ist eine ganz schöne Herausforderung, sich im Alltag einen guten Überblick zu verschaffen, wenn es nicht knallhart Rot ist, oder? Diese Gelb-/Orangephase ist ganz schön groß, kann das sein?

Claudia Spieckermann: Absolut – und dann ist das auch immer abhängig von der einzelnen Person. Wo die eigene Grenze ist, ist sehr verschieden. Ich hatte neulich eine Fachberatung mit drei Kolleg*innen, bei der sehr deutlich wurde, dass sie alle an sehr unterschiedlichen Positionen standen. Das war ein Team, aber da mussten wir auch die Frage klären, wer fallverantwortlich und damit der Entscheidungsträger ist.

tandem-Redaktion: Sonst blockiert man sich auch gegenseitig…

Claudia Spieckermann: Genau. Und das ist schwierig. Das ist das eine. Und das andere ist, dass wir transparent kommunizieren müssen, warum wir das alles tun, dass es gesetzliche Anforderungen gibt. Wichtig ist, dass die Eltern Vertrauen entwickeln in die pädagogischen Abläufe der Einrichtungen, da haben wir einen großen Auftrag – und einen großen Anteil, auch daran mitzuwirken. Immer deutlich zu machen, was passiert da eigentlich. Und dass sie auch verstehen, dass es nicht darum geht, gleich das Jugendamt einzuschalten, das ist gar nicht unser Ziel. Eigentlich haben wir das Ziel, erst die Eltern ins Boot zu holen und gemeinsam zu schauen, was man tun kann. Ein Ergebnis kann sein, dass wir gemeinschaftlich beschließen, dass die Familie Hilfe braucht und wir zusammen zum Jugendamt gehen. Das ist eine ganz andere Ebene, wenn die Eltern sehen, dass sie Hilfe annehmen können. Deshalb ist die Stufe davor so wichtig – und das ist mir auch wichtig, dass das bei den Kolleg*innen so ankommt und dass wir insgesamt so eine Haltung haben. Das wir nicht darum kämpfen, Kinderschutzbeste zu werden, sondern dass wir uns in diesem präventiven Bereich sehr viel stärker positionieren. Das der wirksamste Schutz immer der Schritt davor ist.

Kultursensibler Kinderschutz?

tandem-Redaktion: Gibt es kultursensiblen Kinderschutz?

Claudia Spieckermann: Nein. Wir haben ganz klare gesetzliche Regelungen an dieser Stelle. Und dann ist es egal, wo die Menschen herkommen. Wichtig ist aber, das trotzdem einschätzen zu können. Das war auch Thema einer Fachberatung in einem Team, in dem die Mitarbeiter*innen zum Teil selbst unterschiedliche Kulturerfahrungen haben und einen unterschiedlichen familiären Hintergrund. Deshalb sind die kollegialen Besprechungen/gemeinsamen Fallberatungen auch so wichtig: Wo stehe ich im Moment? Was sagt das Gesetz? Und ganz wichtig: Wie schaffe ich trotzdem eine Basis mit den Eltern, damit sie etwas für sich und ihr Kind tun können? Es gibt Familien, da gehört es zum Erziehungsstil, dem Kind eine Backpfeife zu geben. Hier ist es wichtig zu sagen: Das geht nicht. Diese Auseinandersetzung darüber müssen wir führen. Wir brauchen dennoch ein Verständnis dafür, mit welcher Motivation das geschieht. Deshalb kann ich einen Schlag nicht entschuldigen, – und trotzdem muss ich ja die Chance geben, damit zu arbeiten. Auch mit den Eltern. Und wir müssen uns in fachlicher Profession damit auseinandersetzen, nicht nur mit dem, was Eltern tun, sondern auch mit unserer eigenen Haltung, unserem eigenen Wertekanon. Wie passt das zusammen, auch das Abgleichen/Ausloten der eigenen Grenzen, die wirklich sehr individuell sind. Das ist für mich auch immer der Schritt davor, dass ich meine eigenen Wahrnehmungen, Haltungen, mein fachliches Standing immer wieder anschaue und auch in den Austausch darüber gehe. Um auch eine gewisse Sicherheit zu bekommen in meinem Einschätzungshorizont.

tandem-Redaktion: Liebe Claudia Spieckermann, wir danken für das Gespräch!

Claudia Spieckermann erarbeitet als Koordinatorin Kinder- und Jugendschutz Verfahrensregelungen, Dokumente und Orientierungshilfen zum Vorgehen bei Verdacht auf Kindes-/Jugendwohlgefährdung entsprechend § 8a SGB VIII sowie bei Verdacht auf und bei vorhandener institutioneller Kindeswohlgefährdung (z. B. durch Beschäftigte) und entwickelt diese weiter. Sie führt Informationen zum Thema zusammen und unterstützt bei der Organisation unserer Fort- und Weiterbildungen im Bereich Kinderschutz. Derzeit baut sie ein Kinderschutzteam auf und erarbeitet mit diesem eine Struktur zur Umsetzung der internen Fachberatung nach § 8a SGB VIII durch insoweit erfahrene Fachkräfte (iseF).

Dieser Artikel erschien auch in unserem tandem MAGAZIN Ausgabe 4/2019. Das ganze Heft können Sie hier kostenlos herunterladen.


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