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Zwei Jahre „Kinderschutz inklusiv“
Erstellt
Thema InklusionKinderschutz
von Barbara Brecht-Hadraschek
2019 haben wir uns als tandem BTL auf den Weg gemacht und mit Förderung durch die Werner-Coenen-Stiftung das Thema Kinderschutz im Kontext von Inklusion weiterzuentwickeln. Das Projekt „Inklusiver Kinderschutz“ hat bei uns viele Denkprozesse angestoßen, Sichtweisen erweitert und uns in unserer inklusiven pädagogischen Arbeit ein gutes Stück vorangebracht. Ein Gespräch mit Claudia Spieckermann und Bettina Sänger aus dem Projektteam Kinderschutz inklusiv.
tandem-Redaktion: Welches Resümee zieht ihr über die bisherige Arbeit im Projekt? Wie ist denn aktuell der Stand der Dinge?
Bettina Sänger: In Projektzeitraum haben wir drei Fortbildungen im Jahr zum Thema Inklusion und Kinderschutz durchgeführt. 2021 sind drei bis sechs weitere in Planung – die konkreten Seminarthemen entwickeln wir immer in enger Abstimmung mit den Mitarbeiter*innen, mit denen wir auch am Thema „Inklusiven Kinderschutz” zusammenarbeiten. Außerdem konnten wir unsere Netzwerkkontakte ausbauen und festigen – und profitieren hier sehr von den Perspektiven der Expert*innen außerhalb der tandem BTL.
Ein ganz wichtiges Ergebnis ist, dass wir den „inklusiven Kinderschutz“ mittlerweile in unserem schon bestehenden Kinderschutzprozess und unserem Indikatorenkatalog mitdenken und einbinden. Deshalb sprechen wir jetzt auch nicht mehr vom „inklusiven Kinderschutz“, sondern von „Kinderschutz inklusiv“. Es geht ja im Kinder- und Jugendschutz um alle Kinder und Jugendlichen. Und alle Kinder und Jugendlichen profitieren von diesem inklusiven Ansatz.
Die Perspektive der Betroffenen und die fachliche Perspektive einbeziehen
tandem-Redaktion: Wie seid ihr da hingekommen?
Bettina Sänger: Sehr wertvoll war und ist die Unterstützung durch unsere Konzeptbegleiterin Martina Müller. Martina Müller ist u.a. Beraterin in der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB®) in Leipzig und Vorstandsfrau des Vereins „Leben mit Handicaps“ e.V. Sie hilft uns einerseits dabei, uns allgemein mit dem Thema Kinderschutz und Inklusion auseinanderzusetzen, außerdem hat sie hat einen Indikatorenkatalog entwickelt, der angelehnt ist an die Übersicht zu den berlineinheitlichen Indikatoren /Risikofaktoren zur Erkennung und Einschätzung von Gefährdungssituationen der Senatsverwaltung Jugend.
Claudia Spieckermann: Was für uns ganz wichtig ist: Martina Müller kann die Perspektive von Betroffenen genauso einbeziehen wie die fachliche Perspektive: Zum einen kann sie persönliche Erfahrungen einbringen, weil sie selbst Beeinträchtigungen hat – zum anderen hat sie vielfältige Erfahrungen in der Beratung Betroffener und ist als Pädagogin und Erziehungswissenschaftlerin Lehrbeauftragte an Universitäten sowie Fortbildnerin für Multiplikator*innen im Themenfeld „Kinderschutz und Behinderung“.
Es gibt ja nicht so viele Menschen an Hochschulen, die sich mit dieser Frage auseinandersetzen: Muss man Kinderschutz überhaupt anders betrachten, wenn man im Feld mit Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen arbeitet? Und wenn ja, was muss man vielleicht anders betrachten? Ganz konkret in Hinblick auf diese Fragestellung hat Martina Müller einen Indikatorenkatalog entwickelt, in dem sie sich ganz spezifisch auf das Themenfeld Behinderungen/Beeinträchtigungen konzentriert hat. Der Katalog war ja grundsätzlich schon da, doch sie hat ihn überarbeitet, für uns in der Praxis handhabbarer gemacht und auch fachlich nochmal anders hinterlegt, weil sie die Expertise dafür mitbringt.
Inklusiver Blick auf Kinderschutz
tandem-Redaktion: Habt ihr ein Beispiel, woran man diesen inklusiven Blick auf Kinderschutz gut nachvollziehen kann?
Claudia Spieckermann: In ihrem Indikatorenkatalog gibt es zum Beispiel den Punkt „freiheitsentziehende Maßnahmen“. Was sind eigentlich freiheitsentziehende Maßnahmen? Im Kontext von Körperbehinderung könnte eine Fixierung eine Regulationshilfe für Menschen sein, die körperlich-motorisch sehr aktiv sind. Das schwingt eine Dimension mit, die uns sehr berührt und uns auch im Kinderschutz-Team sehr beschäftigt hat. Mir die Frage zu stellen, ob ich ein Kind im Rollstuhl wirklich fixieren muss. Und was heißt Fixierung? Wie schwer, wie viel, wie lange? Gibt es Möglichkeiten, das abzustufen? Das fand ich sehr spannend. Das war ein Moment, der eine Tiefe gebracht hat über diese Ebenen nachzudenken, so dass man nicht (mehr) automatisch sagt: "Ok, die Person hat eine Spastik und braucht einen Rollstuhl, das ist doch logisch, dass die Person angeschnallt werden muss", sondern dass man genauer hinschauen und fragen sollte: Ist das so? Ist eine Armfixierung wirklich immer notwendig im Falle einer Spastik?
Martina Müller hat dann auch unsere Unterlagen zur Verfahrensregelung Kinderschutz nach § 8a SGB VIII speziell mit dieser Brille angeschaut und uns sehr wertvolle Hinweise gegeben. Das bestätigte unsere Idee, dass Kinderschutz immer für alle Kinder gilt. Die Fragen sind dieselben.
Bettina Sänger: Mit dieser neuen Perspektive haben wir dann begonnen, unseren Indikatorenkatalog Kinderschutz inklusiv für die tandem BTL zu entwickeln. Wir wollten jetzt nicht mehr zwei unterschiedliche Kataloge, sondern einen Kinderschutzkatalog, der für alle Kinderschutzprozesse gilt. Schließlich sind viele Themen für alle Kinder relevant. Martina Müller stellt beispielsweise in ihrem Indikatorenkatalog die Frage, wo das Pflegebett steht und ob es genug Privatsphäre für das Kind gibt. Und wir dachten: Gut, die Frage der Privatsphäre ist für Kinder und Jugendliche ohne Beeinträchtigung natürlich auch relevant.
tandem-Redaktion: Das heißt, ihr habt im Ergebnis den Kinderschutzprozess, den tandem ja schon hatte, abgeglichen und verzahnt und einen inklusiven Prozess geschaffen.
Claudia Spieckermann: Genau. Der neue Katalog teilt sich jetzt nur noch an der Stelle, wenn es um die Meldung eines Kinderschutzfalles geht. Unser Anliegen ist ja, eine breite Sensibilisierung für den inklusiven Kinderschutz zu erreichen – auch wenn uns schon klar ist, dass an einer Regelgrundschule nicht viele komplexbehinderte Jugendlichen zu finden sind. Aber dort gibt es Kinder und Jugendliche aus dem Autismusspektrum oder Kinder und Jugendliche mit emotional-sozialen Entwicklungsschwierigkeiten; auch das Thema Trauma und Traumatisierung hat durch die Willkommensklassen an Präsenz gewonnen. Das sind alles Elemente, die man auch sonderpädagogisch betrachten könnte, im Sinne von außerhalb des Regelhaften. Sie finden sich unter uns. Mit dem gemeinsamen Indikatorenkatalog werden inklusive Perspektiven Teil der Regelhaftigkeit – und das trägt hoffentlich zu einer inklusiveren Gesellschaft bei.
Ausblick
tandem-Redaktion: Ein weiteres Ziel des Projektes war ja die Ausbildung von Multiplikator*innen. Wie wird es da weitergehen?
Bettina Sänger: Wir befinden uns aktuell in der zweiten Verlängerung der Förderung durch die Werner-Coenen-Stiftung. Diese Zeit brauchen wir auch, um unsere geplante Fortbildungsreihe fortzusetzen, coronabedingt hatte sich da doch einiges verschoben. Langfristig ist bei uns die Entwicklung einer Ausbildung zur insofern erfahrenen Fachkraft im Kinderschutz inklusiv geplant. Hier werden wir mit Matthias N. Gillner vom Kinderschutzzentrum Neukölln zusammenarbeiten. Gemeinsam wollen wir prüfen, wo die iseF-Ausbildungsmodule um inklusive Fragen wie Behinderung, Flucht, Trauma erweitert werden können. Perspektivisch soll dann eine Ausbildung mit diesem inklusiven Schwerpunkt 2022 bei uns in der tandem BTL Akademie starten – ebenso wie andere Fort- und Weiterbildungen. Der „Kinderschutz Inklusiv“ wird uns weiterhin begleiten, durch die Werner-Coenen-Stiftung war es uns möglich, diesen Prozess gemeinsam zu beginnen.
Ansprechpartnerin Kinderschutz inklusiv:
Bettina Sänger
030 443360-60
bettina.saenger@tandembtl.de
Das Projekt wird von der Werner-Coenen-Stiftung gefördert. Anliegen der Werner-Coenen-Stiftung ist die Qualifizierung und Weiterentwicklung von Angeboten der Jugendhilfe für Kinder und Jugendliche in Berlin.
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